Lebendig begraben? Das neue Wiener Burgtheater an der Ringstraße
Bereits zwei Tage nach der Abschiedsvorstellung im alten Gebäude am Michaelerplatz wurde das neue Haus am Ring eröffnet, das trotz baulicher Mängel ein Treffpunkt der Wiener Gesellschaft wurde.
Der Schauspieler Hugo Thimig (1854–1844) über das Burgtheater am Ring.Wir sitzen nun unrettbar fest in der neuen prunkvollen Gruft unseres Burgtheaters und sehen, qualvoll geängstigt, die Lebendigbegrabenen, wie man das alte liebe Haus am Michaelerplatze langsam und erbarmungslos einreißt. Wir werden noch eine kurze Zeit an unserem alten Ruhm zehren, und dann wird der Fluch des neuen Riesentheaters alle unsere guten Traditionen vernichtet haben.
Die "Neue Freie Presse" fällte über die Fehlplanung des Burgtheaters ein vernichtendes Urteil.Will man das Burgtheater, diese unvergleichliche Zierde Wiens, noch retten, so ergreife man die energischesten Maßregeln, entweder man baue ein neues Haus, das billig herzustellen wäre, oder man baue den eigentlichen Theaterraum des verhängnisvollen Hauses so gründlich um, daß kein Stein auf dem anderen bleibt.
Die grundlegende Schwierigkeit des Theaters in dieser Zeit fasste Direktor Alfred Freiherr von Berger (Direktor von 1910–1912) prägnant zusammen.Das Burgtheater ist ein unlösbares Problem. Weil es ein Kunstinstitut ist, muss es im Zeichen der Freiheit stehen, weil es ein Hofinstitut ist, ist es gebunden. Die Quadratur des Zirkels, das perpetuum mobile und ein idealer Burgtheaterdirektor, das sind drei unlösbare Probleme.
Schon am Vormittag warteten die Menschen vor dem neuen Haus in Schlangen, um Karten für die Eröffnungsvorstellung zu ergattern. Als die Kassen um sechs Uhr abends aufsperrten, brach ein Chaos aus – manche Wartenden stürzten, viele zogen sich in dem Gedränge Verletzungen zu und erwischten dennoch keine Karten mehr. Der Eröffnungsabend geriet zur Drehscheibe der Wiener 'feinen Gesellschaft', die durch das weitläufige Foyer und die Stiegenaufgänge defilierte.
Das Theater war vom Architektenduo Gottfried Semper, der für den Grundriss verantwortlich zeichnete, und Carl Hasenauer, der die Fassade entwarf, im neubarocken Stil gestaltet worden. Die Bauarbeiten hatten sich seit 1874 über 14 Jahre hingezogen.
Das Theater wurde pompös ausgestattet. Die Deckengemälde in den beiden Stiegenhäusern malte der damals 24-jährige Gustav Klimt gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Ernst und seinem Akademiekollegen Franz Matsch. Die drei jungen Künstler hatten sich zur Künstlerkompanie zusammengeschlossen und bereits mehrere Theaterdekorationen in den Kronländern ausgeführt. Nun konnten sie erstmals in der Haupt- und Residenzstadt, noch dazu an allerprominentester Stelle, ihr Können zeigen.
Aufgrund seiner prunkvollen Gestaltung und der technischen Neuheiten – das Burgtheater war der erste elektrisch beleuchtete Monumentalbau – fand es beim Publikum vorerst großen Anklang. Allerdings machten sich bald die schlechte Akustik und bühnentechnische Mängel bemerkbar, die 1897 einen Umbau des Zuschauerraumes erforderten.
Die SchauspielerInnen fürchteten den riesigen Innenraum. Nur durch ausgesprochen prononcierte und kraftvolle Aussprache konnten sie vom Publikum verstanden werden.
Nach mehreren Umbauten wurde die "Burg" zu einem viel besuchten Treffpunkt der Wiener Gesellschaft und beanspruchte den Rang als "erste deutsche Bühne". Neben Klassikern und deutschen Lustspielen stand auch gesellschaftskritische neuere Literatur auf dem Spielplan.
Als erstes Stück Arthur Schnitzlers wurde "Liebelei" gegeben. 1901 kam mit "Lumpazivagabundus" erstmals ein Stück des ‚Volksdichters’ Johann Nestroy zur Aufführung. Allerdings gab es nur zwei Wiederholungen. Wie auch Raimund wurde Nestroy vom Publikum noch nicht als "burgtheaterfähig" angenommen.