Eine Enzyklopädie der Monarchie
Kaiser Franz Joseph kann’s – oder will’s – kaum glauben: Sein Sohn verfasste eigene Artikel in dem monumentalen Werk „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“.
Literaturbericht, in: Mittheilungen des k. k. oesterreichischen Museums für Kunst und Industrie. Monatsschrift für Kunstgewerbe, Jg. 1 (1886), Nr. 1, 10"Der ureigensten Initiative des Kronprinzen Erzherzog Rudolf verdanken wir das genannte Werk, auf dessen Bedeutung für Oesterreich als einer patriotischen That in diesen Blättern bereits hingewiesen wurde. Groß angelegt, soll es in circa 15 Bänden ein Gesamtbild der Monarchie und ihrer Bewohner geben. Die hervorragendsten Schriftsteller und Künstler Oesterreich-Ungarns haben sich vereinigt, um unter der Leitung und Mitwirkung des Kronprinzen eine ethnographische und topographische Beschreibung des Reiches zu schaffen, von wissenschaftlichem und künstlerischem Werthe und zugleich ein Volksbuch, wie demselben kein anderes, auch außerhalb Oesterreichs, an die Seite zu stellen ist."
Einem Konzept folgend, das wahrscheinlich auf Erzherzog Johann Salvator zurückging, wurde im „Kronprinzenwerk“ jedes Kronland in einem eigenen Band nach Kategorien wie Geografie, Geschichte, Volkswirtschaft, Volkskunde, Kunst oder Verkehrswesen dargestellt. Rudolf selbst steuerte die Einleitungen zu den Übersichtsbänden sowie etwa Artikel zu Wien und Niederösterreich bei.
Seinem wissenschaftlichen Anspruch konnte das Werk allerdings nicht ganz gerecht werden: Zwar wurde, wie Rudolf in der Einleitung hervorhob, die Individualität der einzelnen Völker anerkannt, doch blieb das Werk durch seine politisch-verwaltungsmäßige Einteilung nach Kronländern hinter zeitgleichen ethnografischen Werken zurück, die eine Organisation nach Ethnien bevorzugten. Die Aufsätze mit Beschreibungen der Beschaffenheit der Bevölkerung (die die „Vermessbarkeitsgläubigkeit“ der Anthropologie des 19. Jahrhunderts widerspiegeln) und die volkskundlichen Beiträge zu Volkscharakter, Brauchtum und Volksdichtung waren eher unvermittelt aneinandergereiht, widersprachen sich sogar teilweise. Dazu kamen stereotype Darstellungen, die „klassische Feindbilder“ heraufbeschworen, wie die Beschreibung der „diebischen Zigeuner“.
Viele Stellen reflektieren die Ambivalenzen der zeitgenössischen Gesellschaft: Zwar wird der Fortschritt gefeiert, doch kommen auch die Verdrängung von traditionellem Handwerk, Ausbeutung sowie gesundheitsschädigende Folgen von Industriearbeit zur Sprache, was angesichts des offiziellen Charakters des Werks verblüffend wirkt. Dieser Zwiespalt wird vor allem in der Beschreibung der Randzonen der Monarchie offenkundig: Wehmütig wird auf deren intakte Traditionen geblickt, bedingt durch ihre „Rückständigkeit“, Modernisierung und der Aufstieg zu einer „höheren Kulturstufe“ gelten jedoch als wünschenswert.
Am 1. Dezember 1885 überreichte Rudolf seinem Vater die erste Ausgabe der deutschen und ungarischen Lieferung, welche die von ihm verfassten Einleitungstexte enthielten. Angeblich richtete Franz Joseph beim feierlichen Empfang aus Anlass des Erscheinens an Maurus Jókai, den Leiter der ungarischen Redaktion, die Frage: „Hat denn wirklich mein Sohn diesen einleitenden Artikel selbst geschrieben?“ Jókai selbst überlieferte, dass Franz Josephs „Antlitz die Herzensfreude des Vaters widerstrahlte“. Später soll der Kaiser Rudolf allerdings mit seinem Unverständnis enttäuscht haben.